Es muss sich viel ändern, damit alles gleich bleibt

In letzter Zeit muss ich oft an dieses Zitat aus Viscontis „Der Leopard“ denken. So viel ändert sich überall, technologisch, gesellschaftlich. Und dennoch bleiben die wesentlichen Faktoren gleich oder verschlechtern sich noch für all diejenigen, deren Leistung sich eben nicht lohnt. Mit Mühe wird die protestantische Ideologie, das sich Leistung lohnt aufrecht gehalten. Dennoch werden die leistungsunabhängigen Einkommen und Vermögen schneller größer als alles andere.

Der moderne arme Schlucker denkt über Geldverdienen mittels Web 2.0 nach, bedient sich dabei modernster Technologie und schnellverdaut den neuesten heissen Scheiss jeden morgen RSS-gefeedet. Was in den 90igern mal an Utopie da war, ist aufgerieben worden zwischen Featureitis und Hartz4. Alle babbeln, linken und liken den gleichen Mist, der runterraffiniert wird aus den O´Reilly-Scoble-Höhen, wenn sie nicht schon vor Jahren in die pseudoliterarische Subjektivität emigriert sind. Alles Soziale wird zum „Kontakt“ instrumentalisiert oder zum Facebook-„Friend“ degeneriert. Schuhverkäufercharaktere tauchen auf, die vor 2007 nicht eine Spur im Netz hinterlassen haben, aber nun selbsterkorene Web2.0 Fachleute sind. Der Rest betreibt bloggend Verbraucher- und Konsumberatung.

Die menschliche Natur wird nicht automatisch komplexer, wenn Technologien komplexer werden. Die Semantik der Bedürfnisse ist immer noch so platt wie vor 2693 Jahren. Die Glockenkurve beschreibt immer noch auch die Verteilung der moralischen Stufen. Vielleicht ist sie in 1000 Jahren ein bischen rechtsschief geworden, wenn man Optimist ist. Aber sonst?

Wer fordert Utopien ein, in einer Zeit, in der es möglich wird die kühnsten Träume der Menscheitsgeschichte in einem gemeinsamen Akt des Aufwachens zu realisieren? Wer stellt bei jeder neuen atemberaubenden Technologie die penetrante Frage: Für wen? Für alle oder nur wenige, die es sich leisten können? Wann wird es für viele schmerzlich offensichtlich das so etwas wie Abu Dubai ein Symbol ist für die Herzlosigkeit globaler Dynamiken, die zwischen dem Alptraum für einen Einzelnen und der Utopie für Wenige pendeln? Wann werden wir das Pendel sehen und den Einzelnen vor seiner Wucht verschonen, ohne den Schwung zu den Sternen zu verlieren?

9 Gedanken zu „Es muss sich viel ändern, damit alles gleich bleibt“

  1. Abu Ghuraib, Abu Dhabi, Dubai? Ansonsten, ein Blog ist nicht mehr als ein Blog und ein Friend ist noch lange kein Freund, klar. Haben wir uns etwa mehr erwartet?

  2. Ja, das haben wir. Denn Fortschritt und Technik sollten ja irgendwie eine bessere (menschlichere) Gesellschaft möglich machen.

    Manches wäre vermutlich besser, wenn Politik, Wissenschaft und Technik (Industrie) sich stärker vernetzen und gemeinsam nach Lösungen und Visionen (!) suchen würden. Solange sich nur die jeweiligen Teilsysteme selbst optimieren, muss das Gesamtsystem in hohem Maße suboptimal organisiert bleiben.

  3. Interessant, das mit den Teilsystemen. Eventuell kommts dadurch ja zu einer Bewegung von einander weg. Dann wird das irgendwann komplett inkompatibel. Der Politiker versteht nix mehr von Wissenschaft, der Künstler nichts von Wirtschaft. Alles ist verborgen.

  4. @lhb: Klar, Enttäuschungen müssen gut vorbereitet sein 😉 Die Enttäuschung entzündet sich wohl an den utopischen Erwartungen die mit jeder neuen Technologie an sie gestellt werden. Das sollte wohl auch so sein. Ohne diese utopischen Forderungen überlässt man den Technokraten und den Bedürfnissen der linken Hälfte der Glockenkurve das Feld. Ich will mich da nicht in so eine „realistische“ Haltung schicken: War doch immer so. Oder: Click doch weg. Durch ignorieren verschwinden Probleme selten.

    Stellt sich die Frage: Was sind die Probleme?

    Mir fällt da der Zusammenhang zwischen Vermögenskonzentration und technologischem Fortschritt ein. Dann das weltweite Problem von Zensur und Kontrolle durch Technologie. Der Trend ist ja seit dem 9.11.07 nicht nur in China offensichtlich.

    Man verlängere nur mal diese Trends und werfe in diese Melange die vor uns liegenden Technologien (Robotik, AI, vielleicht AGI, SynBio, Nano)…

    Mir scheint, das gerade in so einer Epoche die Definition von Utopien immer wichtiger wird, da sonst der Status Quo von den jeweiligen Machthabern mittels Technologie zementiert wird. Damit meine ich nicht nur die formellen, sondern auch die informellen Machthaber wie Facebook oder Google.

    Bin mit dieser Themenmelange noch lange nicht durch und versuche nur mir da einen Pfad zu hauen jenseits von pragmatischer Abgeklärtheit und realistischer Resignation.

  5. Andererseits, ohne Internet und co. wären wohl doch noch viel weniger Informationen aus Burma, China und selbst Nordkorea allgemein zugänglich. Ich meine es gibt auf Youtube Videos von Nordkoreanischen Zuständen zu sehen die von mutigen Leuten heimlich gemacht wurden. Ich sehe nicht unbedingt einen Trend hin zu mehr Kontrolle, eher schon ein Hinterhergerenne der Mächtigen, um ihren Anspruch zu Behalten, siehe Musikindustrie. Man _kann_ sich kostenlos Zugang zu fast jeglicher Art von Information und Medien beschaffen, das ging so vor einiger Zeit noch überhaupt nicht.
    Ich nehme an du meinst mit 9.11. die Vorratsdatenspeicherung? Klar bei sowas muss man aufpassen, allerdings brauchen die Gesetzeshüter vielleicht wirklich ein paar neue Mittel um Verbrechen in einem solchen Umfeld wirksam zu verfolgen. Aber Vorsicht und Kritik kann da natürlich überhaupt nicht schaden, habe da in unserem Land bis jetzt keine allzu großen Bedenken. Auf keinen Fall mit China etc. zu vergleichen, jedenfalls zur Zeit.

  6. Globale Dynamiken, so wie sind, werden sich erst zusammen mit unserer Physiologie ändern…oder auch nicht.

    Komisch, aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass es sich nicht gehört etwas auf unsere Physiologie zu schieben óÒ
    btw was das da unten eigtlich?
    „Comments for this post will be closed on 12 November 2008.“

  7. @lbh: schon klar. Mich beschleicht aber der Verdacht, das es keine Rolle spielt. Denn einerseits können Regime wie in Myanmar leicht einfach die Leitungen kappen, andererseits scheint mir der Zusammenhang in den westlichen Staaten zwischen Aufmerksamkeit und Macht/Einfluss (aus dem zu Teilen die Euphorie in der Beurteilung des Bloggens beruhte) gekappt zu sein. Is nur ein Verdacht, aber ein sehr unangenehmer.

    @Ujal: das ist natürlich very transhumanistisch, besser: postsingulär gedacht. Die Morphologie unseres Körpers hat glaub ich schon Chardin für die grundsätzlichen, säugetierischen Dynamiken verantwortlich gemacht.
    Sollten die mal wegfallen, wird sich die Dynamik wohl auf abstraktere Ungleichverteilungen verlagern.

    @comments: Das ist ein Plugin was die Kommentare automatisch nach 60 Tagen nach dem letzten Kommentar schliesst, wenn nicht ordentlich gequatscht wird. Hat zur Folge das der Kommentarspam um fast 95% runtergegangen ist.

  8. „Die menschliche Natur wird nicht automatisch komplexer, wenn Technologien komplexer werden.“
    Aber die Komplexifizierungsgewalt der Natur ergreift alles und jeden. Und durch lichtschnelle Informationskanäle quer durch alle Länder, wird natürlich die Gedankenwelt eifriger User mit jedem Internetabenteuer vielfältiger und intensiver.
    Die Frage, ob man sich in dieser Flut an „Neuigkeiten“ aus geistiger Bequemlichkeit dem allgemeinen Zeitgeist anschließt oder bei allem Medienkonsum vor allem seine spirituellen Grenzen erforscht, entspricht der Entscheidung, ob man neue Komplexitätspotentiale auch seelisch erschließen will.

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