Die Nomenklatur des Leidens und der Panda-Effekt

Zuerst erschienen im Mehrzweckbeutel (Gemeinschafstblog mit Mario Sixtus und Richie Gleim) am 22.3.2003

Ich sehe in einer Talkshow einen Zutzelbart mit Abi, der sich gegen den Irakkrieg engagiert. Während ich noch über seinen eitlen Versuch kontempliere, sich in Hückelshofen eine Rastamähne wachsen zu lassen, kriecht plötzlich in mir ein politisch unkorrekter Verdacht hoch. Umklammert meine Lobi, gibt ihnen Ohrfeigen, so wie man einen Ohnmächtigen ins Bewusstsein holt.

Aufwachen! Hallo! Jemand zu Hause!? Was ist denn mit den vielen Kriegen, die gerade überall auf der Welt stattfinden? Wieso kommen die Magenbittergesichter immer nur auf die Mattscheibe, wenn es plakative, grobe Bilder gibt? Sind das nur die Mechanismen der Mediengesellschaft oder liegt dahinter etwas subtileres?

Gerade in diesem Moment wird jemand zu Tode gefoltert. Gerade in diesem Moment tritt ein Kind auf eine Mine. Gerade in diesem Moment erhält jemand die Diagnose Krebs. Gerade in diesem Moment stirbt jemand Hungers. Gerade in diesem Moment stirbt eine gesamte Art aus. Gerade in diesem Moment passiert etwas Wortfernes. Bildfernes. Unsägliches. Mord. Unfall. Krankheit. Und es erzeugt Leiden. Jetzt und jetzt und vorhin und gleich. Mit mehr oder weniger großer tödlicher Sicherheit. Und nicht jedem ist die Gnade des Todes gegeben…

Die Unterscheidung von durch Menschen verursachtes Leiden und natürlichem Leiden bedient sich nur einer der höheren Stufen der wertenden Leidenshierarchie. Leiden ist Leiden. Leiden ist nicht quantitativ. Leiden ist nicht qualitativ. Leiden ist, weil wir sind. Umfassendes Mitgefühl macht keine Unterschiede.

Wie still war es in den Städten ´91 als Saddam die Kurden besuchen liess? Wie still ist es, wenn ein einsamer Mensch stirbt? Zutzelbärte mit Abi brauchen die groben Leidensbilder, weil sie die feine Firnis des Leidens, die in unsere Existenz eingewoben ist, noch nicht sehen können.

Eine Mischung aus Kindchenschema und Phantasielosigkeit zwingt den WWF mit dem Panda um Spenden zu bitten. Ein schleimiger Wurm der auch auf der Liste der bedrohten Arten steht, hat kein Kuschelpotential.

Oma Müller stirbt einsam. Peruanische Bauern sterben einsam, wenn die maoistischen Todesschwadronen das Dorf verlassen. Tausende sterben ohne eine Demo in Hückelshofen.

Nieder mit dem Leiden! Nieder mit dem Tod! Tod den Tränen! Asyl für gebrochene Herzen!

Leiden ist in unsere Existenz eingewoben. Wieso treten „spirituelle“ Zeitgenossen immer erst aus gegebenem Anlass an die Petitionstische? Ein Anlass ist gegeben. Soso. Ist er sonst nie gegeben? Sind das die gleichen Leute, die erwarten das man ihnen Mitgefühl entgegenbringt, wenn ihr Kind stirbt? Entweder wir werten Leiden nicht oder wir entscheiden auf einer Gehaltsliste des Leidens was unser Mitgefühl und Engagement verdient hat. Natürlich kann man in einem technischen Sinne gegen dies oder das sein und sich für historische große und kleine Details einsetzen.

Aber geht es an, das man sich im einen Moment erstaunt und entrüstet, und im anderen wegclickt? Ein Dilemma, das nur mit einer umfassenden inneren Haltung zum Leiden lebbar ist. Man hilft da, wo man steht und verhält sich so, das Leiden minimiert und Mitgefühl maximiert wird.

Alles andere ist persönlicher oder kultureller Narzismus und ein Sozialisations-Durchlauferhitzer. Von Krieg nicht überrascht werden, heisst umfassendes Mitgefühl praktizieren können. Vielleicht.

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